
Klimaschutz im Bausektor – Bauen im Bestand statt Neubau
Prof. Amandus Samsøe Sattler, Architekt und DGNB-Präsident, rief bei der Energiewochen – Konferenz am 3. Oktober 2024 zu einem Paradigmenwechsel auf. Einprägsam erläuterte er seine Grundsätze: Nicht mit Neubauten nach Passivhausstandard retten wir uns aus der Klimakrise, sondern nur indem wir den Bestand wieder wertschätzen, auf Wiederverwendung setzen und anders, einfach und mit CO2-reduzierten Materialien bauen.
Knapp 80 Teilnehmende, darunter viele Architekt:innen, Akteure aus öffentlichen Verwaltungen sowie Privatleute, waren am 3. Oktober zur Auftaktkonferenz der diesjährigen Energiewochen gekommen. Unter dem Motto „Klimaneutralität im Gebäudesektor bis 2050: Auf dem Bestand aufbauen“ hatten das Oekozenter Pafendall und der Mouvement Ecologique den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), Prof. Amandus Samsøe Sattler, eingeladen. Prof. Sattler ist auch Vorstandsmitglied im Förderverein Bundesstiftung Baukultur und hat ein Architekturbüro, Studio Ensømble, in Berlin.
Sattler nutzte den Anlass, um zu einem Paradigmenwechsel aufzurufen. Seine Diagnose: „Das Bauen hat sich seit der Moderne zu einem systemischen Fehler für das Ökosystem unserer Erde entwickelt“. Unsere Ziele in punkto Klima- und Umweltschutzes können wir nur erreichen, wenn wir den „ökologischen Fußabdruck“ des Bausektors signifikant reduzieren. Denn auf ihn geht ein Großteil des menschlichen Raubbaus an der Natur zurück:
- 40 % des CO2-Ausstoßes,
- 50 % des Energieverbrauchs,
- 60 % des Abfallaufkommens
- 70 % der Flächenversiegelung
- 90 % der mineralischen Rohstoffe, die verbraucht werden.
In seinem Vortrag skizzierte er, wie eine Architektur, die sich dem Klimaschutz als Leitmotiv verschreibt, aussehen könnte. Die Kreislaufwirtschaft spielt hierbei eine wichtige Rolle. In erster Linie ging es ihm jedoch um das Prinzip der Suffizienz: Wir müssen nicht nur anders bauen, sondern vor allem auch weniger.
Keine Rettung aus der Krise mit Passivhäusern
Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit im Bausektor konzentrieren sich bislang im Wesentlichen auf den Neubau und die Betriebsenergie (Wärme, Strom), die ein Haus ab dem Zeitpunkt der Fertigstellung benötigt. Energieeffizienz (z.B. Passivhausstandard) und die Produktion von Wärme und Strom aus erneuerbaren Energien stehen im Vordergrund (Solaranlagen, Wärmepumpen etc.).
Dies ist laut Sattler aus mehreren Gründen problematisch:
Graue Energie: jeder Neubau „frisst“ bei der Erstellung so viel Energie und Ressourcen, dass diese sich erste über mehrere Jahrzehnte überhaupt „amortisieren“. D.h. es gibt aus seiner Sicht keine klimaneutralen, geschweige denn klimapositiven, Neubauten.
Illustration 1 – Klimaneutrales versus klimapositives Bauen © DGNB e.V. (Quelle: Zukunft Bau Kongress 2023)
Energieeffizienz im Betrieb: In der Praxis hat sich außerdem gezeigt, dass der tatsächliche Energieverbrauch eines Hauses oft von dem berechneten Verbrauch abweicht (siehe Graphik unten). Ausschlaggebend hierfür ist das Nutzerverhalten der Bewohner:innen sowie die Zusammensetzung des Haushalts. Der faktische Verbrauch kann demnach stark variieren selbst im selben Wohnhaus bzw. in einem identischen Gebäude.
Darüber hinaus produzierten und nutzten Gebäude ohnehin immer mehr erneuerbare Energien, dank Solaranlagen und Elektrifizierung der Heizsysteme (z.B. Wärmepumpen), die bei Neubauten mittlerweile Standard sind.
Insofern sei das „Energieproblem“ in dieser Hinsicht nicht das drängendste Problem des Bausektors:
„Deswegen brauchen wir einen Systemwechsel. Wir schauen ja im Moment immer noch nur auf die Energiezahlen. Wir wollen immer Häuser mit guten Energieeffizienzklassen haben, aber wir müssen davon wegkommen. Wir müssen unsere Arbeit auf Emissionsziele ausrichten und weggehen von diesen reinen Energiebetrachtungen, weil wenn wir bei der Energie weiter gut vorankommen – und wir sind ja auf gutem Weg – dann ist die Betriebsenergie ja auch lösbar“
Es sei nun an der Zeit, sich auf den Bestand zu konzentrieren.
Bestandsgebäude klimafreundlicher als ihr Ruf
Bestandsgebäude werden wegen des meist schlechteren Dämmstandards und der veralteten Heizsysteme in der Regel als Problem betrachtet. Abriss und Ersatzneubau statt Umbau und Sanierung sind dann oft die Folge.
Im Gegensatz hierzu ist Sattler gerade aus Gründen des Klimaschutzes Verfechter der Bestandserhaltung. Er legte dar, warum Bestandsbauten besser – d.h. klima- und umweltfreundlicher – als ihr Ruf seien. Der Hauptgrund: Die Ressourcen und CO2-Emissionen, welche für den Neubau nötig sind, sind im Bestand bereits vorhanden. Diese machen einen Großteil des „ökologischen Fußabdrucks“ eines Gebäudes aus und fallen stärker ins Gewicht als der Betrieb:
„Der Gebäudebestand ist der Schlüssel, weil er schon 50 Prozent der grauen Energie in sich trägt, die wir dann nicht vernichten. Selbst wenn wir das Haus zurückbauen bis auf den Beton – oder aus was auch immer das Skelett ist – und Fassade und alles Innen erneuern, haben wir immer noch 50 Prozent gespart.“
Illustration 2 – Treibhausgasemissionen Neubau versus Instandsetzung (Quelle: Erfahrungswerte CO2-Emissionen K118 Erstellung Bauten Stadt Zürich mit Baubüro in situ)
Sattler bezog dies explizit nicht nur auf denkmalgeschützte Altbauten, sondern auch die in Verruf geratenen Wohngebäude aus der Nachkriegszeit, in denen besonders viel Beton verbaut wurde. Da Beton der Baustoff ist, bei dessen Herstellung am meisten CO2 emittiert wird, gelte es gerade Betongebäude zu erhalten statt sie abzureißen – umso mehr, als dass der CO2-intensive Beton heutzutage in der Regel weiter „die erste Wahl“ der Bauherren ist.
Hinzu kommt, dass der tatsächliche Energieverbrauch eines Altbaus mit „schlechter“ Energieeffizienzklasse in Wirklichkeit oft besser sei als der Energieausweis glauben mache.
Illustration 3 – Die Performance Gap: Tatsächlicher und berechneter Energieverbrauch pro m2 Wohnfläche in Einfamilienhäusern nach Energieeffizienzklasse (Quelle: in Anlehnung an Gram-Hanssen & Hansen, 2016)
Außerdem könne der Energieverbrauch mit gezielten Maßnahmen in der Regel wesentlich verbessert werden. Dabei riet Sattler jedoch ausdrücklich von Sanierungen ab, die auf Neubaustandards abzielten:
„Wenn wir einen Altbau auf Passivhausstandard bringen wollen, dann können wir eigentlich wirklich fast neu bauen. Dann machen wir so viel, dass es dem Haus nicht guttut […] Also, diese Wärmeverbundsysteme, zum Beispiel, die dann oben auf die Häuser draufgeklebt werden, sind ja erstmal Sondermüll“
Fazit: Instandsetzung und Umbau sowie Wiederverwendung von Bauteilen gehen für Sattler vor Neubau. Und wenn denn neu gebaut werden muss, dann sollte vor allem einfach (u.a. mit wenig Technik), kreislauffähig und mit (nachwachsenden) Materialien gebaut werden, die wesentlich weniger CO2 verbrauchen als jeder Beton. Der Einsatz von Beton und Zement müsse auf ein Minimum reduziert werden.
Leitprinzipien für eine neue Architektur
Mit Klimaschutz als oberstem Leitmotiv formulierte Sattler drei Grundprinzipien für die Architektur:
- Umbau statt Neubau: Bestand erhalten und sanieren, Leerstand bekämpfen und neuen Wohnraum in „obsoleten“ Gebäuden (wie leerstehende Fabriken und Bürogebäude) schaffen (siehe Audio-Aufzeichnung, Teil 1).
- Bestehende Bauteile wiederverwenden: Jedes wiederverwendete Bauteil spart CO2-Emissionen und Rohstoffe, daher sollten so viele wie möglich eingesetzt und valorisiert werden (Materialbörsen wie Concular in Deutschland können dabei helfen) (siehe Audio-Aufzeichnung, Teil 2).
- Einfach bauen mit CO2-reduzierten Baumaterialien: Um kreislaufgerecht und umweltschonend zu bauen gilt es, Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen statt Beton und Zement zu verwenden, einfache Bauweisen zu wählen und wenig Technik einzusetzen (siehe Audio-Aufzeichnung, Teil 2).
Hieraus entstehen für Sattler auch neue Vorstellungen architektonischer Schönheit. Denn Gebäude, die nach diesen Prinzipien gebaut bzw. umgebaut werden, „sehen dann auch anders aus“. Die mehr als überfällige Transformation sei daher nicht nur ökologischer Natur, sondern auch ästhetisch.
Einzelne Länder zeigen: es geht auch anders
In seinem Vortrag machte Sattler deutlich, dass der Weg hin zu Kreislaufwirtschaft und Suffizienz in der Realität noch sehr weit ist. Bislang ist europaweit kein Paradigmenwechsel erkennbar. Er verwies auf die Ergebnisse einer Studie der DGNB, die untersucht hat, inwieweit die Ziele und Kriterien der EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen sich in realen Bauprojekten widerspiegeln. Um den Übergang zur Kreislaufwirtschaft voranzutreiben, sieht die EU-Taxonomie folgende Materialquoten für Bauprojekte vor:
- 15 % der Bauteile sollten wiederverwendet sein
- 15 % der Baumaterialien sollten recycelt sein
- 20 % der Baumaterialien sollten entweder nachwachsend, wiederverwendet oder recycled sein
Die Ergebnisse der Studie waren jedoch mehr wie ernüchternd: Kein einziges analysiertes Bauprojekt erfüllte die Kriterien (siehe Studie).
Es gibt jedoch einzelne Länder, in denen sich einiges tut. Sattler zeigte mehrere beispielhafte Bauprojekte aus insbesondere Dänemark, Deutschland und der Schweiz (siehe Annex im Bericht unter Downloads). Die Innovationskraft und Kreativität scheint in jenen Ländern besonders groß zu sein, deren Gesetzesrahmen den Bestandsschutz und Wiederverwendung gezielt fördern bzw. besonders strenge Auflagen machen.
In Dänemark müssen die Bauvorschriften den Anforderungen des Pariser Klimaschutzabkommens entsprechen, dies auf Basis der Klimawissenschaften. Seit 2023 gelten daher strenge CO2-Obergrenzen für Neubauten, die größer als 1.000 m2 sind: Pro gebautem Quadratmeter dürfen nicht mehr als 12 kg CO2 anfallen, welches mit Lebenszyklusanalysen belegt werden muss. Die Anforderungen werden ab 2025 progressiv verschärft und auf weitere Gebäudetypen ausgeweitet (siehe Nordic Sustainable Construction).
In der Praxis heißt dies, dass Bauherren den Einsatz von Beton und Zement begrenzen müssen und dadurch auch Anreize für die Wiederverwendung alter Bauteile erhalten, die mit 0 kg CO2 berechnet werden. Jedes Mehr an Wiederverwendung und jedes Weniger an Beton erleichtert die Erfüllung der Vorgaben. Die Ziele werden ab 2025 progressiv verschärft
Darüber hinaus bekämpft Dänemark den Leerstand (und Immobilienspekulationen) mithilfe einer Wohnsitzpflicht, die bedeutet, dass Eigentümer:innen für leerstehende Wohngebäude hohe Steuern an den Staat entrichten müssen.
In Deutschland erleichtert der so genannte „Gebäudetyp E“ einfacheren, günstigeren und experimentellen Wohnungsbau (Neubau und Bestand), indem er Architekten bzw. Bauherren ermöglicht, auf die Anwendung etablierter bautechnischer Regeln und Normen zu verzichten und mit alternativen Bauweisen und Materialien (z.B. wiederverwendete) zu bauen.
In Schleswig-Holstein hat die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (ARGE e.V.) mit dem „Regelstandard Erleichtertes Bauen“ einen neuen Standard für die soziale Wohnraumförderung für das Bundesland entwickelt, der einfaches und günstiges Bauen und Umbauen gezielt unterstützt. Die Bundesstiftung Baukultur hat in Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren aus dem Bausektor vor Kurzem ein Strategiepapier „Einfach besser bauen“ mit 15 Forderungen an Politik und Bauwirtschaft verabschiedet, um klima- und ressourcenschonendes und günstigeres Bauen in Bestand und Neubau voranzubringen.
Als weiteres reglementarisches Beispiel wurde die Schweiz bzw. insbesondere die Stadt Zürich genannt, wo begründet werden muss, wenn ein Gebäude abgerissen werden soll.
Einen Überblick über einige der von Sattler erwähnten beispielhaften Bauprojekte in diesen Ländern finden Sie im Annex im Bericht unter „Downloads“.
Der begeisterte Applaus und Austausch nach Ende des Vortrags lassen darauf schließen, dass die Ausführungen Sattlers einen Nerv bei den Teilnehmenden trafen – Grund genug, die vielen Impulse und Anregungen aus dem Vortrag weiterzuverfolgen!
Den gesamten Vortrag können Sie hier als Audio-Aufzeichnung hören.
Audio 1: Umbau statt Neubau |
Audio 2: Wiederverwendung bestehender Bauteile und einfach bauen mit CO2-reduzierten Baumaterialien |
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Die Energiewochen fanden unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für Wohnungsbau und Raumentwicklung, des Ministeriums für Wirtschaft sowie des Ministeriums für Umwelt, Klima und Biodiversität statt.
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